Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch Iäuft! Das hat Emil Zátopek gesagt, und es gibt keinen Grund daran zu zweifeln. Seine Worte im Ohr, stehe ich an der Startlinie zum Marathonlauf. Es ist eigentlich nichts Ungewöhnliches 42,195 Kilometer zu laufen, versuche ich mir einzureden. Hunderttausende machen es. Bei einem Blick in die Runde finde ich ausreichend Bestätigung. In dieser frühen Morgenstunde bin ich nur eine von Zwanzigtausend, die auf den befreienden Startschuss wartet. Ich glaube, ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe. Auf die kommenden Stunden bin ich besser vorbereitet, als auf manch wichtige Prüfung in meinem Leben. Aber was ist mit den unzähligen Familienangehörigen, Freunden und Bekannten, die an diesem Sonntagmorgen um 9 Uhr im Bett liegen und von Emil Zátopek noch nie etwas gehört haben? Sind sie, unter Missachtung der elementaren Bewegungsform der menschlichen Kreatur, nicht viel besser dran als ich? Jetzt nicht darüber nachdenken, rede ich mir zu, auch nicht über ihre warmen Decken, bei nur zehn Grad.
Neben mir steht ein dunkelhäutiger Athlet, der mich um weit mehr als einen Kopf überragt. Er hält sich so gerade, als praktiziere er eine Yogaübung zur Streckung der Wirbelsäule. Ich lächle ihm zu, springe von einem Bein aufs andere, singe sogar den Refrain eines scheußlichen Ohrwurms mit, der aus den Lautsprechern dröhnt und klatsche in die Hände. Der hübsche Hüne denkt sicher, ich sei eine von denen, die im Winter beim Aprés-Ski auf den Tischen tanzt. Immerhin lächelt er zurück.

Tischen tanzt. Immerhin lächelt er zurück. Ist vermutlich einer dieser Businesstypen, die sogar in Sportbekleidung elegant aussehen. Marathon Iäuft er sicher nur zum Ausgleich. Sein auberginefarbenes Trikot ist eng anliegend und seine knappe Hose würde ich gern von hinten sehen. Wer trägt schon aubergine? Ob er auch so schnell ist wie ich? Oder so langsam? NOCH EINE MINUTE BIS ZUM START! Gänsehaut oder Schüttelfrost? Ich fühle mich unwohl wohl. Mein Körper ist auf alles vorbereitet. Es wird keinen Einbruch geben! Ich werde diszipliniert auf die Uhr schauen! Regelmäßig trinken! Rechtzeitig essen! Keine Experimente machen! Habe ich auch wirklich genug trainiert? Im Gedränge entdecke ich eine Frau im bauchfreien Outfit. Kein Gramm Fett an ihrem Körper. Friert die nicht? Ich trage Handschuhe.
Zehn. Neun. Acht. Sieben. Sechs. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Schuss!
Einer trägen Karawane gleich, setzen wir uns in Gang. Die Menge staut sich. Noch habe ich die Linie nicht überquert. Erst dort werde ich meine Uhr auf Start drücken. Am liebsten würde ich lossprinten, die Aufregung abschütteln und den Kräften freien Lauf lassen. Nach einigen Hundert Metern wird die Straße breiter und mein Schritt schneller. Noch fehlt mir das Gefühl für das richtige Tempo. Hauptsache laufen, endlich laufen, einen Schritt vor den anderen setzen, zuerst vom Kopf gesteuert und später ganz automatisch. Von der Bauchfreien sehe ich nur noch ihren knackigen Hintern in der Menge aufblitzen.

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